Miese Stimmung durch positives Denken

Sie beobachten es vielleicht in Ihrem eigenen Arbeitsumfeld auch. Es wird für immer mehr Menschen immer schwieriger, dem wachsenden Druck in der Arbeit und den Einladungen zur Selbstüberforderung in der Freizeit mit guter Laune standzuhalten. Supervisoren erleben ständig, was der entschlossene Wille, sämtlichen Ansprüchen an Selbstoptimierung unter allen Umständen zu genügen, aus Menschen macht: Burn-Out-Patienten, Depressive. Der Konsum an Psychopharmaka und leistungssteigernden Medikamenten nimmt zu, die Lebensfreude ab.

Das sieht auch der Arzt, Psychologe und Familientherapeut Arnold Retzer. Er hat eine „Streitschrift gegen positives Denken“ geschrieben, die sich diesem Thema scharfsinnig, kenntnisreich und auf amüsante Weise widmet. Das Buch heißt Miese Stimmung (2012, S. Fischer Verlag) und verspricht: „Thema dieses Buches wird es sein zu zeigen, wie die individuell erlebten und erlittenen Krisen von gesellschaftlichen Verhältnissen hervorgebracht, geformt und aufrechterhalten werden und dass unsere soziale und kulturelle Umwelt uns und unsere Vorstellungen von uns selbst meist stärker beeinflussen, als wir es uns selbst eingestehen wollen.“ (S. 12)

Nach fast dreihundert Seiten Analyse dieser gesellschaftlichen Verhältnisse kommt er zu dem Schluss: „Wenn wir nicht länger autistische Leistungs- und Erfolgsmaschinen oder biologieterrorisierte Haustiere sein wollen, besteht unsere Chance gerade darin, kaputtzugehen, das heißt, nicht mehr zu funktionieren […] Die gegenwärtig […] überlebenswichtige Aufgabe heißt: Erkenne, wer du nicht bist!“ (S. 294).

Das Buch ist natürlich polemisch geschrieben, aber dabei so faktenreich und erhellend, dass ich es auch denen empfehlen kann, deren Selbstoptimierungswille noch ungebrochen in jugendlicher Blüte steht.